„Wissenschaftliche Bewertung osteopathischer Verfahren“ der Bundesärztekammer (Auszüge)

Die Frage, ob die „Osteopathie“ als Heilkunde zu bezeichnen ist, kann nur vor dem Hintergrund der Entwicklung des jeweiligen Gesundheitssystems entschieden werden.

Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Bewertung, der ein klar umrissener Auftrag zugrunde liegt, geht es nicht darum zu prüfen, ob eine weitere heilkundliche Profession in das deutsche Gesundheitssystem Eingang finden soll, zumal dabei die großen strukturellen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem US-amerikanischen Gesundheitssystem zu beachten wären.

Bereits 1913 war die „Osteopathie“ in 39 Bundesstaaten der USA offiziell anerkannt (20). Seit 1963 ist der Abschluss einer Ausbildung an einem der zahlreichen Colleges, an denen dieses Verfahren auf der Basis einer medizinischen Grundausbildung im Sinne einer Schwerpunktbildung in theoretischen und klinischen Kursen gelehrt wird, mit der Bezeichnung Doctor of Osteopathy (D. O.) dem M. D. (medical doctor), der an einem regulären Medical College erworben wurde, gleichgestellt.

Auch wenn z. B. der Verband der Osteopathen Deutschland e.V. (VOD) die Bezeichnung „D. O.“ als geschützte Wortmarke vergibt, so hat dieser Titel rechtlich keine Bedeutung, er ist auch nicht mit dem genannten US-amerikanischen Abschluss zu vergleichen, der auf einer vollwertigen medizinischen Ausbildung basiert.

Ob die „Osteopathie“ mit Blick auf das deutsche Gesundheitssystem als Heilkunde zu bezeichnen ist, kann nicht losgelöst von der Frage beantwortet werden, ob es sich dabei um eine wirksame Behandlungsmethode ohne größere Risiken für die Patienten handelt. Dazu ist zunächst aus historischer Sicht zu bemerken, dass US-amerikanische Osteopathen schon früh begonnen haben, den Nachweis der Wissenschaftlichkeit zu erbringen.

Entsprechend ihrem universitären Status beschäftigen sich die Osteopathic Medical Schools in den USA schon seit vielen Jahrzehnten wissenschaftlich mit der gesamten Bandbreite der Themen der Grundlagen- und klinischen Forschung.

In Großbritannien werden in den osteopathischen Schulen schon seit vielen Jahren, vor allem im Rahmen von „Diplomarbeiten“ und ohne finanzielle Ressourcen, Studien realisiert, allerdings bislang kaum kontrollierte klinische Interventionsstudien.

In Deutschland kam es mit zunehmenden Bemühungen um eine Vereinheitlichung von Eckpunkten der Ausbildung, namentlich der Einführung obligatorischer Abschlussarbeiten und später der Marke „DO“, zu einer sprunghaften Zunahme der Forschungsaktivitäten. Eine schulübergreifende „Akademie für Osteopathie“ unternahm vor einiger Zeit den Versuch, ambitionierte Qualitätsstandards für Diplomarbeiten zu entwickeln.

Bei der Beurteilung der Wirksamkeit und der Sicherheit osteopathischer Verfahren sind einige grundlegende Aspekte zu berücksichtigen. Als Erstes ist es sinnvoll, die Beurteilung des philosophischen Gedankengebäudes von der wissenschaftlichen Beurteilung der Wirksamkeit und der Sicherheit der befunderhebenden und therapeutischen Maßnahmen zu trennen. Als Zweites ist es wichtig festzuhalten, dass die Beurteilung der Wirksamkeit und der Sicherheit für die befunderhebenden und therapeutischen Maßnahmen nicht an klassischen Indikationen, welche sich an Krankheitsdiagnosen im Sinne der Internationalen Klassifikation für Krankheiten (ICD) orientieren, erfolgen kann.

Entsprechend lässt sich die Beurteilung der wissenschaftlichen Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit auch nicht für die Bereiche parietale, viszerale und kraniosakrale „Osteopathie“ differenzieren. Offensichtlich kommen für verschiedene Befund- und Symptomkonstellationen grundsätzlich alle drei Ansätze zur Anwendung.

Dieses Konzept ähnelt in gewisser Hinsicht komplementärmedizinischen Verfahren, die man unter dem Etikett „Regulationsmedizin“ zusammenfassen kann. Auf einer abstrakten Ebene sind einige dieser Annahmen (Bewegung, Fluss und Ganzheitlichkeit) durchaus mit unserem heutigen naturwissenschaftlich-ärztlichen Denken kompatibel. So sind Aspekte wie Bewegung und Ganzheitlichkeit essenzieller Bestandteil verschiedener medizinischer Fachdisziplinen.

Zwei beauftragte Gutachter kamen zum Schluss, dass für einige Bereiche der osteopathischen Befunderhebung und Therapie sowie bestimmter Techniken bereits eine relevante Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten vorliegt. Dies betrifft insbesondere die Aspekte der „Osteopathie“, welche weitgehend in die Manuelle Medizin eingeflossen sind. Für diesen Bereich fand eines der Gutachten bei restriktiver Suche in der Datenbank Medline (Einschränkung auf Records mit einschlägigen MeSH-Begriffen und ohne Verwendung des Begriffs „effectiveness“) insgesamt 62 als thematisch relevant zu bezeichnende Einträge, welche also tatsächlich die Wirksamkeit osteopathischer Behandlungsformen thematisieren. Hiervon konnten 16 der Evidenzklasse I a zugeordnet werden. Zudem erfüllen weitere 16 Artikel die Kriterien der Evidenzklasse I b. Die restlichen 30 Einträge zählen entweder zu den Kategorien II–IV Level und Metaanalysen. Verschiedene dieser Studien und Metaanalysen kamen zum Ergebnis, dass osteopathische Behandlungen bei einer Reihe unterschiedlicher Gesundheitsstörungen/Erkrankungen wirksam sein können.

Im zweiten Gutachten wird zudem darauf verwiesen, dass offensichtlich ein wesentlicher Teil der Literatur nicht in Medline gelistet ist. Auch sei in den letzten Jahren eine deutliche Intensivierung der klinischen Forschung nach allgemein üblichen Standards zu verzeichnen gewesen. Dies lasse sich auch daran erkennen, dass eine relevante Anzahl größerer RCTs zur osteopathischen Behandlung aktuell in der Durchführung sei.

Unter Berücksichtigung der Schwierigkeit der Differenzierung der drei osteopathierelevanten Bereiche parietal, viszeral und kraniosakral wird klar, dass für den Bereich der viszeralen „Osteopathie“ deutlich weniger wissenschaftliche Grundlagen vorhanden sind und diese für den Bereich der kraniosakralen „Osteopathie“ fast vollständig fehlen.

Die Risiken, welche sich aufgrund von befunderhebenden und therapeutischen Maßnahmen einer geschädigten Struktur ergeben, sind breit gefächert; es sind immer Strukturläsionen im Rahmen der ärztlichen Differenzialdiagnostik zu erfassen und zu bewerten. Hinsichtlich der therapeutischen Intervention betreffen sie beispielsweise die Komplikationen bei einer auch nur leichten Traktion der HWS bei einer atlantoaxialen Dislokation, die Gefahr einer Fraktur bei generalisierter Osteoporose oder das Aufplatzen eines Divertikels bei einer bestehenden Divertikulitis. Beim älteren Menschen mit vorgeschädigten, insbesondere vaskulären Strukturen, ist ein höheres Risikopotenzial anzunehmen. Entsprechend der Literaturübersicht durch die beiden Gutachter sowie den Erfahrungsberichten der osteopathisch-tätigen Kollegen im Arbeitskreis sind die Komplikationen sowohl im Rahmen einer ungeschädigten wie auch einer vorgeschädigten Struktur als gering zu betrachten.

Entscheidende Voraussetzung, um insbesondere Komplikationen durch befunderhebende und therapeutische Maßnahmen einer vorgeschädigten Struktur zu vermeiden, ist eine umfassende ärztliche Untersuchung und Differenzialdiagnose.

Quelle: Deutsches Ärzteblatt 106, Heft 46, 13.11.2009, Seite A2325 ff.